Kollwitz

20.3. – 9.6.2024

Digitorial® zur Ausstellung

„feministische Vorreiterin“
„nationale Größe“
„kommunistisches Aushängeschild“
„aufopfernde Mutter“
„christlich-bürgerliches Idol“

Ein sehr bekannter Name: Käthe Kollwitz (1867—1945) zählt zu den berühmtesten Künstlerinnen der Geschichte – und wurde allzu oft in Schubladen gesteckt. Ob als feministische Vorreiterin, kommunistisches Aushängeschild, christlich-bürgerliches Idol oder Symbolfigur des deutschen Wiederaufbaus nach 1945 – selten war der Blick auf die Künstlerin frei. Doch Kollwitz’ Suche nach neuen, aufwühlenden Ausdrucksformen in Zeiten enormer gesellschaftlicher Umbrüche bildet vor allem eins: eine mutige künstlerische Position der Moderne.

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EIN ZIEL
VOR AUGEN

Der Blick auf das Selbst – bei Kollwitz alles andere als eine Seltenheit. Ihre zahlreichen Selbstbildnisse zeugen von einer tiefen Entschlossenheit – als Frau das Neue wagen, einen Platz als Künstlerin erobern!

In mir war Zielrichtung.

Käthe Kollwitz in Rückblicke auf frühere Zeit, 1941

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis, um 1888

Empfindsam, etwas trotzig, fragend – die 22-jährige Kollwitz weiß sich zu inszenieren. Mit üblichen Frauendarstellungen hat die Zeichnung wenig zu tun: Das lange Haar im Nacken zusammengebunden, trägt sie ein schlichtes Hemd. Kein klassisches Bild von Weiblichkeit – dem Betrachter blickt hier eine junge Frau der Moderne entgegen.

Die Moderne – Aufbruch in die Zukunft

Moderne Kunst sollte aus der direkten Anschauung des Künstlers entstehen. Die Künstlerin Kollwitz hält sich immer wieder selbst den Spiegel vor.

Käthe Kollwitz erlebte die Gründung des Deutschen Kaiserreichs, die 30-jährige Regentschaft Wilhelms II., den Ersten Weltkrieg, den Ausgang der deutschen Monarchie und die Weimarer Republik. Kurz vor dem Ende des mörderischen Regimes der Nationalsozialisten starb die Künstlerin im Jahr 1945, kriegsevakuiert aus ihrer jahrzehntelangen Wahlheimat Berlin. Ihr Werk spiegelt Mensch und Gesellschaft in unruhigen Zeiten.

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis von vorn, 1922/23

Künstlerin ihrer Zeit

Künstlerin sein, selbstständig lernen, schaffen und sich als kreative Größe aufbauen – beinahe ein Ding der Unmöglichkeit in Kollwitz’ Generation. Sie musste für ihre Berufung entschieden einstehen.

Es gibt wohl Weiber mit genialen Zügen, aber es gibt kein weibliches Genie, hat nie ein solches gegeben und kann nie ein solches geben.

Otto Weininger in Geschlecht und Charakter, 1903

Gleichberechtigung? – fern jeder Realität. Bis 1919 waren Frauen in den deutschen Kunstakademien nicht zugelassen. Ihre geschlechtliche Veranlagung sei von Natur aus nicht zu Inspiriertheit und Schöpfungskraft fähig, so die weit verbreitete Überzeugung. Junge Künstlerinnen wurden stattdessen in von Frauen gegründeten Berufsverbänden ausgebildet. Auch Kollwitz erhält mit 19 Jahren Unterricht in der Mal- und Zeichenschule des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin. Ohne die Hilfe ihrer progressiven Eltern wäre das kaum möglich gewesen.

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf, 1889–1891

Elternhaus

Käthe Kollwitz, Studienblatt mit Skizzen nach Rubens und Selbstbildnis, um 1890/91

Dieses Skizzenblatt war Kollwitz bis ans Lebensende sehr wichtig: Ein Erinnerungsstück an ihre Ausbildungszeit und ein Zeugnis ihrer Begabung. Es zeigt Studien nach Peter Paul Rubens sowie unten mittig ein launisches Selbstporträt. Nach einem Jahr in Berlin schickt der Vater die junge Künstlerin 1888 nach München, wo eine pulsierende Kunstszene lockt.

Der freie Ton der Malweiber entzückte mich.

Käthe Kollwitz in Rückblicke auf frühere Zeit, 1941

„Malweiber“ – ein Schimpfname, den sich die Münchner Kommilitoninnen trotzig auf die Fahnen schreiben. Die jungen Frauen sind sich ihrer gesellschaftlichen Stellung bewusst und provozieren, indem sie sich mit Malkitteln auf der Straße zeigen. Kollwitz und ihre Kolleginnen versuchen sich auch in der neuartigen Malerei des Impressionismus.

Unbekannt, Käthe Schmidt (sitzend, Zweite von rechts) in der Münchner Malklasse von Ludwig Herterich, um 1889
Käthe Kollwitz, Biergarten, 1888/89
Käthe Kollwitz, Biergarten, 1888/89
Max Liebermann, Münchner Biergarten, 1884
Ludwig von Herterich, Mädchen mit Krug, ca. 1887

Gemälde, bestimmt von reiner, kräftiger Farbe und Atmosphäre – im Werk von Kollwitz eine Ausnahme: Ihr Münchner Professor Ludwig von Herterich lehrte eine eher farbreduzierte, „tonige“ Malerei. Doch mit dem Ende ihrer Studienjahre entscheidet sich die junge Künstlerin für ihre ganz eigene Sprache der Kunst.

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SCHONUNGS­LOSE
LINIENKUNST

Eine äußerst kühne Entscheidung: Kollwitz wendet sich 1891 von der Malerei ab. In Zeichnung und Druckgrafik erreicht sie eine unverkennbare Intensität und entwickelt jene künstlerischen Themen und Ausdrucksweisen, für die ihr Name bis heute steht.

Ich las zufällig von Max Klinger die Broschüre ,Malerei und Zeichnung’. Da merkte ich: ich bin ja gar keine Malerin!

Käthe Kollwitz in Rückblick auf frühere Zeit, 1941

Max Klinger, Malerei und Zeichnung, 1891

Max Klinger, Malerei und Zeichnung, 1891

Manchmal kann ein Buch das Leben verändern: Kollwitz’ Entscheidung für die Grafik war von der Schrift Malerei und Zeichnung des Künstlers Max Klinger befeuert. Kollwitz muss sie bald nach ihrer Veröffentlichung 1891 gelesen haben.

Wo die Malerei dem Beschauer zu reinem Genießen Muße […] bieten musste […], entwickelt die Zeichnung […] ein Stück Leben mit allen uns zugänglichen Eindrücken.

Max Klinger in Malerei und Zeichnung, 1891

Ehrlich, als direkter Ausdruck der Lebenserfahrung des Künstlers und erschütternd: So beschreibt Max Klinger das besondere Potenzial der Zeichnung und Grafik. Während die Malerei auf Harmonie und Schönheit ziele, könne die grafische Kunst eine aufrüttelnde, unmittelbare Wahrhaftigkeit vermitteln. Klingers Gedanken bestärken Kollwitz in ihrem künstlerischen Programm!

Experimentierfeld Druckgrafik

Käthe Kollwitz, Sitzende Frau mit Säugling im Schoß, 1894

Hinschauen, mitfühlen, nachempfinden – Kollwitz entfaltet in ihren Zeichnungen und Druckgrafiken eine unverwechselbare Sprache: Mit schonungsloser Intensität schildert sie Szenen, die den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft vor Augen führen. In ihren Bildern sucht sie die nächstmögliche Nähe zu den Körpern und Gefühlen der Dargestellten – und grenzt sich so deutlich von der Kunst ihres Vorbilds Max Klinger ab.

Abbildungen von Käthe Kollwitz und Max Klinger

Gretchenfrage

Nicht wegdrängen, nicht beschönigen, sondern zeigen! Mit ihrer Wende zur Grafik entwirft Kollwitz Bilder ganz nah am Leben.

Hingeschaut

Die Entscheidung für die Druckgrafik zahlt sich aus: Mit ihrem sechsteiligen Zyklus Ein Weberaufstand gelingt Kollwitz ein Überraschungserfolg in der Berliner Kunstszene. Ihre Werke überschreiten Normen und Erwartungen. 

Nicht allein der Stoff, sondern die männliche Kraft der Charakteristik, die Kühnheit des […] Vortrages, widersprachen so sehr allem, was man bisher in der bildenden Kunst von Frauenhand kannte.

Max Lehrs in Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst: Die Graphischen Künste, 1898

Begeistert von Gerhard Hauptmanns Theaterstück Die Weber: Kollwitz macht sich nach ihrem Besuch der Berliner Uraufführung 1894 an die Arbeit. Mit ihrer Bildfolge wagt sie sich an einen historischen Stoff, der Ende des 19. Jahrhunderts skandalträchtig war.

Käthe Kollwitz, Not, Blatt 1 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897
Käthe Kollwitz, Tod, Blatt 2 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897
Käthe Kollwitz, Beratung, Blatt 3 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897
Käthe Kollwitz, Weberzug, Blatt 4 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897
Käthe Kollwitz, Sturm, Blatt 5 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897
Käthe Kollwitz, Ende, Blatt 6 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897

Soziale Realität als Naturgesetz

Käthe Kollwitz, Tod (Detail), Blatt 2 aus dem Zyklus Ein Weberaufstand, 1893-1897

Bei der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 feiert der Weber-Zyklus Erfolge und verhilft Kollwitz zu Bekanntheit. Sie wird sogar für eine Medaille vorgeschlagen. Doch Kaiser Wilhelm II. legt sein Veto ein. Kollwitz’ schonungslosen Blick auf Missstand und Not lehnte der Kaiser ab: „Rinnsteinkunst“, so bezeichnete er Bilder, die die etablierten Regeln der Schönheit durchbrachen.

Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke.

Kaiser Wilhelm II. in der Rede Die wahre Kunst, anlässlich der Einweihung des letzten Denkmals der Siegesallee, 1901

Künstlerische Schönheit und Erhabenheit sollten die Moral und Größe des Kaiserreichs veranschaulichen, so war Wilhelm II. überzeugt. Kollwitz’ drastische Bildsprache und ihre sozial engagierte Haltung will dazu nicht passen. Sie schließt sich der Künstlerbewegung an, die das enge Korsett des staatlich-akademischen Kunstbegriffs sprengen möchte. Die Künstlerin ist Teil der sich positionierenden Moderne.

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INSPIRATION
MODERNE

Dem künstlerischen Ausdruck eine neue Freiheit und Lebensnähe verleihen! Mit diesem Ziel vor Augen organisierten sich in ganz Europa Künstlerverbände. Käthe Kollwitz ist Mitglied der Berliner Secession und vernetzt sich international. Inspirieren lässt sie sich von der Kunstmetropole Paris. 

Ist es notwendig oder vernünftig, darüber zu jammern, dass für alte, unzeitgemässe Kunstformen die letzte Stunde geschlagen hat? Sie sind zu alt, zu brüchig, um in sich aufzunehmen, was durch sie ans Licht will: Die neue Kunst einer neuen Zeit.

Ernst Neumann in der Zeitschrift Die Kunst für Alle, 1902

Wilhelm Schulz, Plakat für die 2. Ausstellung der Berliner Secession, 1900

Kollwitz stellt ihre Kunst auf den Ausstellungen der Berliner Secession aus. Sie wird 1901 ordentliches Mitglied der Künstlergruppierung, die bereits 1899 als Gegenpol zum akademischen Kunstbetrieb des Kaiserreichs gegründet worden war. Frau, Ehefrau, zweifache Mutter und aktive Künstlerin: Auch in der progressiven Kunstszene bleibt sie eine Ausnahmegestalt. 

Secession heißt Abspaltung

Tanz, Musik, Literatur – in allen Bereichen der Kultur entstehen neue Ausdrucksweisen. Kollwitz ist mittendrin: Das beweist ihre atemberaubende Arbeit Die Carmagnole, die sie auf der Ausstellung der Berliner Secession 1901 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.

Käthe Kollwitz, Die Carmagnole, 1901

Die Carmagnole bezeichnet Kollwitz damals als ihr Hauptwerk. Als sie 1901 das erste Mal nach Paris aufbricht, hat sie einen Abzug der Arbeit im Gepäck.

Die Farben von Paris

Die Weltmetropole Paris zieht Kollwitz in ihren Bann: Bei ihren Aufenthalten 1901 und 1904 erlebt sie Kunst, die in Berlin nicht ausgestellt wird. Mit Strömungen der internationalen Moderne setzt sie sich intensiv auseinander. 

Paris bezauberte mich…

Käthe Kollwitz in Rückblick auf frühere Zeit, 1941

Es braucht die passende Kunstsprache, um das Leben in der modernen Industriegesellschaft zu schildern: Ausdrucksstarke, grobe Linien, eine flächige Farbigkeit und die Technik der Farblithografie – Kollwitz lässt sich von unterschiedlichen Einflüssen inspirieren. 

Käthe Kollwitz, Pariser Kellerlokal, 1904
Pablo Picasso, Morphinomanes, 1900
Käthe Kollwitz, Weiblicher Rückenakt auf grünem Tuch, 1903
Eugene Carrière, Weiblicher Rückenakt, um 1897
Käthe Kollwitz, Frau mit Orange, 1901
Théophile-Alexandre Steinlen, Mädchen und Zuhälter, 1898
Käthe Kollwitz, Junges Paar, 1904 (?)
Édouard Vuillard, Das Dame-Spiel, 1899

Neu kombiniert

Ich hoffe aber, dass in meinen Arbeiten zu merken sein wird, was ich mir in Paris geholt habe.

Käthe Kollwitz in einem Brief an Max Lehrs, März 1901

Ehrliche Arbeiter

Errungenschaften und Abgründe des industrialisierten Großstadtlebens: Kollwitz schärft ihren durchdringenden Blick auf die Gesellschaft ihrer Gegenwart. Ihre Darstellungen von Menschen der Arbeiterklasse sind einprägsam und einzigartig.

Die vielen stillen und lauten Tragödien des Großstadtlebens — das alles zusammen macht, daß mir diese Arbeit außerordentlich lieb ist.

Käthe Kollwitz an die Studienfreundin Beate Bonus-Jeep

Hans Baluschek, Arbeiterinnen, 1900
Pablo Picasso, Scène de rue, 1900

Zahlreiche Künstler der Moderne machten um 1900 die Welt der industrialisierten Arbeit „salonfähig“: Hans Baluschek in Berlin oder Pablo Picasso in Paris wendeten sich in ihren Gemälden Menschen zu, die an den Rändern der Großstadt schufteten oder in Arbeitslosigkeit und Armut abgedrängt waren.

Nicht nur der Wunsch nach Sozialkritik trieb die bürgerlichen Kunstschaffenden an. Auch ihre Sehnsucht nach zeitloser Ehrlichkeit, Einfachheit und Unverfälschtheit ließ sie die Fabrikarbeiter malen. 

Sehnsüchtige Moderne

Solch eine Arbeiterfrau zeigt mir von ihrer Gestalt und ihrem Wesen viel mehr als die durch Konvention überall in ihrem Tun und Lassen eingeengte Dame, sie gibt sich auch in ihren Gefühlsäußerungen viel unverhüllter.

Käthe Kollwitz in einem Brief an Adolf Heilborn, 1924

Käthe Kollwitz meint zunächst in den Menschen der Arbeiterklasse eine unkonventionelle Natürlichkeit zu erkennen, die sie als schön empfindet. Doch schon ihre Köpfe aus den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts heben sich von anderen Arbeiterdarstellungen der Moderne deutlich ab: Kollwitz fokussiert ihre Kunst allein auf die Gesichter. Diese verdeutlichen – individuell und typisch zugleich – die Auswirkung gesellschaftlicher Bedingungen auf den einzelnen Menschen.

Käthe Kollwitz, Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch, 1903
Käthe Kollwitz, Gesenkter Frauenkopf, 1905 (?)
Käthe Kollwitz, Arbeiterfrau mit dem Ohrring, 1910
Käthe Kollwitz, Stehender Arbeiter, um 1904/06
Käthe Kollwitz, Zeitungsfrau, 1908
Käthe Kollwitz, Die Straße, 1908

Zu nah am Leben für zarte Gemüter – bis heute kann der Anblick von Käthe Kollwitz‘ Druckgrafiken erschüttern. Ihre Kunst fordert zum Hinschauen heraus und legt den Finger in die Wunde.

Zu unschön für die Kaiserin

Heinrich Lichte & Co (Fotografisches Atelier), Heimarbeit in der Manteuffelstraße 64, Berlin 1911

Ungelöste Probleme wie Prostitution, Arbeitslosigkeit, quälten und beunruhigten mich [...] ihre immer wiederholte Darstellung öffnete mir ein Ventil oder eine Möglichkeit, das Leben zu ertragen.

Kollwitz in Rückblick auf frühere Zeit, 1941

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GRENZGÄNGE

Werke die sich ins Gedächtnis einbrennen! Für Kollwitz ging der unerschrockene Blick auf die Gesellschaft und die Suche nach existenziellen Wahrheiten des Menschseins Hand in Hand. Dabei testete sie immer wieder die Grenzen des Darstellbaren.

Mensch, werde wesentlich!

Käthe Kollwitz in einem Tagebucheintrag, nach Angelus Silesius, Februar 1917 

Technisch anspruchsvoll und außerordentlich erfindungsreich: Kollwitz’ berühmter Zyklus Bauernkrieg geht unter die Haut. Lange Jahre, von 1901 bis 1908, ringt die Künstlerin um die Gestaltung der sieben Blätter. Das Ergebnis schildert eindringlich das verzweifelte Aufbegehren geknechteter Menschen.

Käthe Kollwitz, Losbruch (Detail), Blatt 5 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1902/03 

Der Zyklus spiegelt eine Revolte des sogenannten Deutschen Bauernkriegs (1524/25). Der Versuch der Bauern, sich gegen die Leibeigenschaft und das feudale Ständesystem aufzulehnen, galt vielen Historikern des 19. Jahrhunderts als wichtigster Befreiungskampf der deutschen Geschichte.

Revolution des gemeinen Mannes

Käthe Kollwitz, Die Pflüger, Blatt 1 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1907
Käthe Kollwitz, Vergewaltigt, Blatt 2 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1907/08
Käthe Kollwitz, Beim Dengeln, Blatt 3 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1905
Käthe Kollwitz, Bewaffnung in einem Gewölbe Blatt 4 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1906
Käthe Kollwitz, Losbruch, Blatt 5 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1902/03
Käthe Kollwitz, Schlachtfeld, Blatt 6 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1907
Käthe Kollwitz, Die Gefangenen, Blatt 7 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1908

Körperliche und sexuelle Erniedrigung, kollektive Wut, abgründige Trauer und tiefe Resignation: Eine Bandbreite extremer menschlicher Empfindungen führt Kollwitz im Bauernkrieg vor Augen. Die historische Handlung des 16. Jahrhunderts wird zur Schablone für eine zeitlose Mahnung gegen die Verletzung menschlicher Würde.

Käthe Kollwitz, Beim Dengeln, Blatt 3 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1905
Käthe Kollwitz, Beim Dengeln (Drei Studien zu einer Frau mit Sense), 1905

Ein angespannter, wahnhafter und doch völlig versunkener Zustand „auf Messers Schneide“: Das dritte Blatt des Zyklus Beim Dengeln zeigt eine der kühnsten Bilderfindungen der Künstlerin überhaupt. Doch der Weg bis zu dieser aufreibenden Darstellung der Bäuerin war lang. In zahlreichen Zeichnungen und Probedrucken und unter Einsatz verschiedener Techniken tastete sich Kollwitz an die finale Version heran.

Ich hoffe, es einmal so darstellen zu können, daß ich damit fertig wäre.

Käthe Kollwitz in einem Brief an die Studienfreundin Beate Bonus-Jeep

Kollwitz arbeitete prozesshaft: Als Künstlerin der Moderne rang sie um Formen. Einmal gefundene Motive und Kompositionen verwendete sie noch nach Jahren wieder. Dies gilt auch für das Bildthema, das sie ihr Künstlerinnenleben lang begleiten sollte: Die Mutter und ihr (totes) Kind.

Mutter, Körper, Mensch

Bilder, wo es keine Worte gibt. Eine Radierung, deren Anblick erschüttert: Eine Mutter umklammert den leblosen Körper ihres Kindes.

Käthe Kollwitz, Frau mit totem Kind, 1903

Eine unsagbare Leidenschaft, ein unbegreiflicher Schmerz: Die Körper von Mutter und Kind verschmelzen zu einer Einheit. Geradezu animalisch mutet die Verwandlung der Mutter an, die ihr Gesicht in die Brust des toten Kindes versenkt, es verschlingen, einatmen, nur nicht gehen lassen möchte. 

Arbeiten unter Tränen

Liebe und Lassenmüssen des Geliebtesten und es halten – immer dasselbe. Wie kommt es, daß seit Jahren, vielen Jahren immer dasselbe in meiner Arbeit sich wiederholt?

Käthe Kollwitz in einem Brief an Hans Kollwitz, Januar 1915

Käthe Kollwitz, Sitzende Mutter, ihr Kind an sich drückend, um 1899
Julius Schnorr von Carolsfeld, Maria mit dem Kinde, 1820

Muttersein als existenzielle Lebenserfahrung: Das thematisierten Kollwitz‘ Kunstwerke über mindestens drei Jahrzehnte – in Zeichnung, Radierung, Lithografie und zuletzt auch in Bronze. Eines der häufigsten Motive der europäischen Kunstgeschichte, die Darstellung von Mutter und Kind, verwandelte Kollwitz in immer neue, moderne Bildideen. Sie inszeniert Körper, die sich umschlingen, sich intensiv berühren und die Grenzerfahrung vermitteln, die Muttersein bedeuten kann.

Käthe Kollwitz, Tod, Frau und Kind, 1910
Käthe Kollwitz, Tod und Frau, um das Kind ringend, 1911
Käthe Kollwitz, Tod und Frau, 1910
Käthe Kollwitz, Tod packt eine Frau, Blatt 4 der Folge Tod, 1934

Harte Bronze – weiche Körper: Schon seit den 1910er-Jahren unternahm Kollwitz Versuche, das Thema der Mutterschaft in eine Bronzefigur zu übersetzen. Erst 1936 kommt das Projekt zum Abschluss: Runde Formen umschreiben den Körper der Mutter, die zwei kleine Kinder in ihrem Schoß fest umschlingt. Eine zeitlose Geste des machtvollen Schutzes, die gleichzeitig an eine Geburt erinnert. 

Käthe Kollwitz, Mutter mit zwei Kindern, Modell: 1932–1936 Guss: Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre 

Vom Papier in den Raum

Mutterliebe – für Kollwitz eines der stärksten Gefühle, das den Kern der menschlichen Existenz berührt. Ihre Kunst führt unmittelbar vor Augen: Die Liebe zum Kind ist untrennbar mit der Angst um Verlust und Tod verbunden.

Käthe Kollwitz, Frau mit totem Kind (Detail), 1903

Ich hab’ als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehen.

Käthe Kollwitz in ihrem Tagebuch, Oktober 1920

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WIDER DEN
KRIEG

Zwei Weltkriege prägen die letzten dreißig Lebens- und Schaffensjahre von Käthe Kollwitz. Leid, Verlust und tiefe Erschütterung spiegeln sich in ihrem Werk. Die Künstlerin wird zur überzeugten Pazifistin.

Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.

Käthe Kollwitz in einem Tagebucheintrag, Dezember 1922

Kunst auf Plakaten? Immer wieder setzt Kollwitz ihre eindringliche Bildsprache zu gesellschaftspolitischen Zwecken ein. Zwischen den Weltkriegen – in der Zeit der Weimarer Republik – wird sie mit Aufträgen geradezu überschüttet und arbeitet vor allem für linke und sozial ausgerichtete Parteien und Verbände.

Käthe Kollwitz, Nie wieder Krieg, 1924
Käthe Kollwitz, Die Überlebenden, 1923
Käthe Kollwitz, Wien stirbt! Rettet seine Kinder!, 1921
Käthe Kollwitz, Helft Russland, 1921

Kollwitz, eine Pazifistin – das beweisen ihre überzeugten Antikriegs-Plakate. Doch erst die leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs lassen die Künstlerin zur Kriegsgegnerin werden. Zuvor teilte sie mit vielen Kulturschaffenden der Moderne den Glauben an die vermeintliche Kraft des Krieges: Kollwitz war überzeugt, dass der Einzelne Opfer bringen müsse und bejahte den Krieg als „gerecht“.

Ich empfand in jener Zeit auch ein Neu-Werden in mir. Als ob nichts der alten Wertschätzungen noch standhielte […]. Ich erlebte die Möglichkeit des freien Opferns.

Käthe Kollwitz in einem Tagebucheintrag, 1914

Käthe Kollwitz, Das Bangen (in: Kriegszeit 10, 28. Oktober 1914), 1914

Eine Frau vor innerer Sorge erstarrt: Das Bangen ist Kollwitz’ Beitrag zur Zeitschrift Kriegszeit, die im Kreis der Berliner Secession herausgegeben und gestaltet wurde. Das Bild verrät den einsetzenden Kriegszweifel der Künstlerin im Oktober 1914 – nur Monate nach Kriegsbeginn. Zwei Tage nach Erscheinen ihres Beitrags erfährt Kollwitz, dass ihr jüngerer Sohn Peter gefallen ist – beim völkerrechtswidrigen Marsch der deutschen Armee durch Belgien.

Kriegszeit

Bis zum Ende

Der Verlust des eigenen Kindes: Was Kollwitz jahrelang in ihrer Kunst verhandelt hatte, realisiert sich in ihrem Leben. Um das Erlittene in Bilder zu kleiden, sucht sie nach einer neuen Ausdrucksweise.

Ich habe immer versucht, den Krieg zu gestalten. Ich konnte es nie fassen. Jetzt endlich habe ich eine Folge von Holzschnitten fertiggemacht, die einigermaßen das sagen was ich sagen wollte.

Käthe Kollwitz in einem Brief an Romain Rolland, Oktober 1922 

Erst mit der Technik des Holzschnitts findet Kollwitz ihre künstlerische Stimme wieder. Im harten Schwarz-Weiß-Kontrast schildert ihre Bildfolge Krieg die menschliche Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Käthe Kollwitz, Das Opfer, Blatt 1 der Folge Krieg, 1922
Käthe Kollwitz, Die Freiwilligen, Blatt 2 der Folge Krieg, 1921/22
Käthe Kollwitz, Die Eltern, Blatt 3 der Folge Krieg, 1921/22
Käthe Kollwitz, Die Witwe I, Blatt 4 der Folge Krieg, 1921/22
Käthe Kollwitz, Die Witwe II, Blatt 5 der Folge Krieg, 1922
Käthe Kollwitz, Die Mütter, Blatt 6 der Folge Krieg, 1921/22
Käthe Kollwitz, Das Volk, Blatt 7 der Folge Krieg, 1922

Kaum ein Künstler hat sich so intensiv mit dem Erleben des Ersten Weltkriegs auseinandergesetzt wie Käthe Kollwitz. Ihr Mut, hinzuschauen, wo andere lieber verdrängen, begleitet sie durch die schwere Zeit. 

Einer Vorahnung gleich: Mit wütender Entschlossenheit stellen sich die Mütter schützend vor ihre Kinder. 1937/38 vollendet Kollwitz die Bronzeskulptur Turm der Mütter – nur Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Schon seit 1922 spielte sie mit dem Gedanken, den Holzschnitt Die Mütter aus ihrem Zyklus Krieg ins Dreidimensionale zu übersetzen. Das Ergebnis lässt sich bis heute als Mahnmal verstehen – für die Millionen Leben, die in den industrialisierten Weltkriegen ausgelöscht wurden.

Der Krieg begleitet mich bis zum Ende.

Käthe Kollwitz in einem Brief an Hans Kollwitz sechs Tage vor ihrem Tod, April 1945 

Auch das wohl bekannteste Werk Käthe Kollwitz’ ist zum Mahnmal geworden: Eine vierfach vergrößerte Kopie ihrer 1939 fertiggestellten Pietà steht seit 1993 in der Neuen Wache in Berlin. Die Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland wurde „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ gewidmet: Eine sehr umstrittene, große Öffentlichkeit für eine der vielleicht intimsten Arbeiten der Künstlerin.

Käthe Kollwitz, Pietà (Mutter mit totem Sohn), 1937–1939

Sie war Käthe Kollwitz, und das war’s.

Jutta Bohnke-Kollwitz anlässlich des 150. Geburtstages ihrer Großmutter, 2017

Unerschrocken und schonungslos: Die Kunst von Käthe Kollwitz kann bis heute herausfordern und erschüttern. Zu oft regiert das Schubladendenken, wenn der Name Käthe Kollwitz fällt. Dabei lohnt der intensive, unvoreingenommene Blick auf das Werk der Künstlerin. In der Betrachtung ihrer Zeichnungen, Grafiken und Plastiken lässt sich erahnen, was es heißt, in der modernen Gesellschaft Mensch zu sein.

Blickfang

Käthe Kollwitz, Losbruch, Blatt 5 aus dem Zyklus Bauernkrieg, 1902/03

Nur im Original ist die Sogwirkung der Kunstwerke von Kollwitz wirklich erlebbar. Vor dem Auge des Betrachters entsteht ein lebendiges Gewebe aus Linien, Mustern und Flächen. Die Figuren beugen, strecken und staffeln sich. In direkter Anschauung dieses Blattes aus dem Bauernkrieg scheint die heranstürmende Menschenmenge beinahe dreidimensional aus der Fläche hervorzutreten: ein Erlebnis, für das es sich ins Museum zu kommen lohnt.

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